Sport bei Menschen mit Essstörung
Intensive körperliche Aktivität und / oder die ständige gedankliche Beschäftigung mit Bewegung und Sport kann ein Symptom einer Essstörung sein und wird auch als Kriterium in den Klassifikationssystemen für Psychische Störungen genannt. Sport und Bewegung werden von Patient*innen in der Regel dazu eingesetzt, den Kalorienverbrauch zu erhöhen, mit dem Ziel der Gewichtsabnahme. Häufig wird Sport auch als kompensatorisches Verhalten nach Essanfällen eingesetzt, um die zugeführten Kalorien wieder abzubauen. Manche Betroffene machen sich zur Auflage, erst Sport zu treiben, bevor sie essen dürfen. Sport wird häufig aber auch eingesetzt, um schwierige Gefühlszustände zu regulieren. Problematisches Sporttreiben ist bei Essstörungen ein häufiges Phänomen (eine Ausnahme bildet die Binge-Eating Störung). Den meisten Studien zufolge weist ein Viertel bis die Hälfte der Patient*innen ein auffälliges Sport- bzw. Bewegungsverhalten auf. Dieses weist folgende Merkmale auf:
- Quantität / Umfang des Sporttreibens: das Trainingspensum geht über das hinaus, was bezogen auf den körperlichen Zustand (Untergewicht/ Mangelernährung) angemessen ist; Sporttreiben erfolgt trotz Verletzung oder starker Erschöpfung
- Art und Weise des Sporttreibens: alleine, nach rigiden Trainingsplänen, zwanghaft (Sport ist ein "Muss")
- Ziel: Sport soll der Figur- und Gewichtsregulation oder der Affektregulation dienen
- Subjektiver Stellenwert: überwertig
- Emotionale Aspekte: Vermeidung von Schuldgefühlen, Ängsten und Niedergeschlagenheit; ausgeprägte Schuldgefühle wenn kein Sport getrieben wird
- Negative Folgen: Vernachlässigung anderer Interessen und sozialer Kontakte, körperliche Überlastung und Verletzungen
Problematisches Sport- und Bewegungsverhalten sollte in der Behandlung einer Essstörung berücksichtigt werden. Ziel dabei ist es, wieder zu einem gesunden Umgang mit Sport zurückzufinden.
Essstörungen im Leistungssport
Leistungssport, aber auch bestimmte Sportarten im Breitensport, gehen mit einem erhöhten Risiko einher, eine Essstörung zu entwickeln. Es sind Sportarten, in denen dem Gewicht eine besondere Bedeutung zukommt – entweder für eine Leistungssteigerung, aus ästhetischen Gründen oder wegen der Vorgabe von Gewichtsklassen. Dazu gehören Ausdauersportarten (z.B. Langstreckenlauf, Radfahren), Antigravitationssportarten (z.B. Klettern, Skispringen), ästhetische Sportarten (z.B. Eiskunstlauf, Kunstturnen) und Sportarten mit Gewichtsklassen wie beispielsweise Ringen oder auch Rudern.
Das Einhalten einer Diät und Einschränkungen der Nahrungszufuhr zur Beeinflussung des Gewichts sind ein grundsätzlicher Risikofaktor für die Entwicklung einer Essstörung. Kommen weitere Risikofaktoren hinzu wie beispielweise eine erhöhte Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper, Erfahrungen von Anderen aufgrund des äußeren Erscheinungsbildes abgelehnt zu werden, zwanghaft-perfektionistische Persönlichkeitszüge sowie eine starke Leistungsorientierung und kommt es dann noch zu Belastungen, die die psychischen Bewältigungsmöglichkeiten überfordern, kann sich eine Essstörung im engeren Sinne entwickeln. Diese sollte möglichst bald psychotherapeutisch behandelt werden, da sie gravierende Auswirkungen auf die psychische und körperliche Gesundheit (einschließlich der sportlichen Leistungsfähigkeit) haben kann.
Eine sogenannte Anorexia athletica (Female Athlete Triad) ist noch keine Essstörung im eigentlichen Sinne, aber Ausdruck eines relativen Energiedefizits (die Nahrungszufuhr ist geringer als der Energieverbrauch; Relative Energy Deficiency Syndrome/ RED), welches sich über ein Ausbleiben der Periodenblutung, Untergewicht und eine Beeinträchtigung der Knochengesundheit äußern kann. Ein relatives Energiedefizit (RED) im Sport geht mit einer ganzen Reihe weiterer negativer Auswirkungen auf körperlicher und psychischer Seite einher, welche u.a. eine verminderte Muskelkraft, ein erhöhtes Verletzungsrisiko, eine verminderte Konzentration sowie depressive Verstimmungen umfassen. Es kann, muss aber nicht die Vorstufe für eine Essstörung wie eine Anorexia oder Bulimia nervosa sein.
Hinweise für Trainerinnen und Trainer
Eine (beginnende) Essstörung bei einer Sportlerin oder einem Sportler rechtzeitig zu erkennen und eine Behandlung einzuleiten, ist von großer Bedeutung, um eine Chronifizierung der Erkrankung zu verhindern sowie um den Erhalt der seelischen und körperlichen Gesundheit sicherzustellen. Ein relatives Energiedefizit-Syndrom (RED) kann ein erstes Warnsignal darstellen. Folgende Auffälligkeiten können ansonsten auf eine beginnende oder manifeste Essstörung hindeuten:
- Deutliche Gewichtsabnahme oder sehr starke Gewichtsschwankungen
- Übermäßige Beschäftigung mit Ernährungsplänen
- Übermäßige Beschäftigung mit dem Gewicht
- Trainingspausen werden nicht eingehalten
- Sozialer Rückzug
Was kann man als Trainer*in tun?
Bei Verdacht auf eine Essstörung empfiehlt sich neben einer körperlichen Diagnostik (z.B. Hausärzt*in, Sportmedizin) grundsätzlich die rasche und niederschwellige Konsultation auf Essstörungen spezialisierter Psychotherapeut*innen, Kinder- und Jugendpsychiater*innen oder Fachärzten bzw. Fachärztinnen für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie oder die Vorstellung in einer Spezialambulanz für Essstörungen, falls eine solche in der Nähe zur Verfügung steht.
Aber wie ansprechen?
Direkt auf Gewicht/ Figur oder Essverhalten angesprochen zu werden, kann für betroffene Personen sehr unangenehm sein. Daher empfiehlt es sich, zunächst Sorge bzw. Fürsorge auszudrücken (z.B. "Ich habe den Eindruck, dass es Dir in der letzten Zeit nicht gutgeht") und nachzufragen, ob der Eindruck stimmt. Das Ansprechen ist wesentlich, auch wenn Hilfe zunächst zurückgewiesen wird. In einem zweiten Schritt sollte eine auffällige Gewichtsabnahme, ein körperlicher Leistungseinbruch oder das Nicht-Einhalten von Trainingspausen und exzessives Trainieren auch direkt thematisiert werden.
Im Breitensport:
Falls kein Arzt/ keine Ärztin und kein Psychotherapeut/ keine Psychotherapeutin involviert ist, sollte zu einer entsprechenden Kontaktaufnahme ermutigt werden. Betroffene von einem Kurs / einem Training / dem Schulsport auszuschließen kann ein einschneidender Schritt sein, der erst bei offensichtlichen körperlichen Problemen und einem ausgeprägten Gewichtsverlust vertretbar ist. Möglich wäre z.B., um eine Bescheinigung zu bitten, dass das Sporttreiben aus ärztlicher Sicht unproblematisch ist.
Im Leistungssport:
Auch hier gilt: Die betroffene Sportlerin / der betroffene Sportler sollte angesprochen werden. Falls der Eindruck bestätigt wird, ist es empfehlenswert, Hilfe anzubieten bzw. an geeignete Anlaufstellen zu verweisen (z.B. kooperierende Spezialambulanz für Essstörungen, erneute zeitnahe Vorstellung in der Sportmedizin). Häufigere Gewichtskontrollen in der Sportmedizin sowie die Vorstellung bei einer Expertin / einem Experten für Essstörungen kann auch zur Auflage gemacht werden. Leistungssportler*innen sind in der Regel deutlich enger betreut als Breitensportler*innen. Sollte sich die Diagnose einer Essstörung bestätigen, ist eine enge Kooperation zwischen Trainer*in, Sportmedizin, Psychotherapeut*in und Ernährungsberater*in anzustreben. Das Internationale Olympische Komitee gibt Empfehlungen zur Risikobewertung und zum Umgang mit Trainings- und Wettkampfteilnahmen, auf die zurückgegriffen werden kann.
Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V. (DGPPN) hält eine Expert*innenliste für Sportpsychiatrie und Sportpsychotherapie auf ihrer Internetseite bereit (https://www.dgppn.de/die-dgppn/referate/sportpsychiatrie.html). Auch die AG Sportpsychiatrie im Kindes- und Jugendalter der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) (
Hinweise für Sportlerinnen und Sportler
Wie oben beschrieben geht das Ausüben bestimmter Sportarten mit einem erhöhten Risiko einher, ein auffälliges Essverhalten bis hin zu einer manifesten Essstörung zu entwickeln. Der Druck in Richtung Leistungssteigerung durch eine Regulierung des Gewichts kann hoch sein. Bei den folgenden Warnsignalen sollten Sie aufmerksam werden und sich Unterstützung holen:
- Das Thema Essen und Gewicht nimmt immer mehr Raum in Ihren Gedanken ein
- Sie beginnen das Essen mit anderen zu vermeiden oder heimlich zu essen
- Sie umgehen die Ernährungsempfehlungen und vermeiden bestimmte Nahrungsbestandteile (z.B. Fette, Kohlenhydrate)
- Sie übergeben sich, wenn Sie meinen zu viel gegessen zu haben
- Sie machen sich Sorgen, mit dem Essen nicht mehr aufhören zu können
- Sie trainieren mehr als nach dem Trainingsplan vorgegeben ist und halten Trainingspausen nicht ein, weil Sie es nicht aushalten, nicht zu trainieren
Es ist nicht leicht, sich zu öffnen und Hilfe in Anspruch zu nehmen. Aber Essstörungen sind Erkrankungen, die gravierende psychische und körperliche Folgen haben können. Auch sind sie mit einer Karriere im Leistungssport nur schwer vereinbar.